Vor einigen Tagen erklärte mir Florian Thalhofer, wie er zur Erfindung des Korsakowsystems kam. Im Korsakowsystem verbinden sich Erzähleinheiten über Schlagwörter. Die Schlagwörter vertreten und bezeichnen innere Analogien. Eine Sequenz verbindet sich mit einer anderen, weil sie aneinander erinnern. Der Zwang zur übergreifenden Spannung und zur fortschreitenden Handlung mitsamt ihrem Zeitablauf fallen weg. Florian Thalhofer hat es mir schon viele Male erklärt, aber er erklärt es immer verschieden. Dieses Mal sagte er, er habe das System erfunden, weil er sich keine Namen merken könne, dafür aber Gesagtes und Gehörtes, so dass das Gesagte und Gehörte in freien Einheiten in seinem Gehirn schwebe, bereit, sich immer neu mit anderem Gesagten zu verbinden, ohne Ansehen von Rang und Namen derer, die es gesagt haben.
Als hätte der Physiker Ernst Mach es geahnt, schrieb er um die vorletzte Jahrhundertwende: "Nicht das Ich ist das Primäre, sondern die Elemente [mit Elementen sind Farben, Töne, Wärmen, Drücke, Räume, Zeiten und an sie geknüpfte Stimmungen, Gefühle und Willen gemeint; Körper sind räumlich und zeitlich verknüpfte Komplexe solcher Elemente und erwecken ihrer Dichte wegen den Eindruck beständiger Einheiten]. Die Elemente bilden das Ich. Ich empfinde Grün, will sagen, dass das Element Grün in einem gewissen Komplex von anderen Elementen (Empfindungen, Erinnerungen) vorkommt. Wenn ich aufhöre Grün zu empfinden, wenn ich sterbe, so kommen die Elemente nicht mehr in der gewohnten geläufigen Gesellschaft vor. Damit ist alles gesagt. Nur eine ideelle denkökonomische, keine reelle Einheit hat aufgehört zu bestehen. Das Ich ist keine unveränderliche, bestimmte, scharf begrenzte Einheit. Nicht auf die Unveränderlichkeit, nicht auf die bestimmte Unterscheidung von andern und nicht auf die scharfe Begrenzung kommt es an, denn all diese Momente variieren schon im individuellen Leben von selbst, und deren Veränderung wird vom Individuum sogar angestrebt. Wichtig ist nur die Kontinuität. […] Die Kontinuität ist aber nur ein Mittel, den Inhalt des Ich vorzubereiten und zu sichern. Dieser Inhalt und nicht das Ich ist die Hauptsache. Dieser ist aber nicht auf das Individuum beschränkt. Bis auf geringfügige wertlose persönliche Erinnerungen bleibt er auch nach dem Tode des Individuums in anderen erhalten. Die Bewusstseinselemente eines Individuums hängen untereinander stark, mit jenen eines anderen Individuums aber schwach und nur gelegentlich merklich zusammen. Daher meint jeder nur von sich zu wissen, indem er sich für eine untrennbare von anderen unabhängige Einheit hält. Bewusstseinsinhalte von allgemeiner Bedeutung durchbrechen aber diese Schranken des Individuums und führen, natürlich wieder an Individuen gebunden, unabhängig von der Person, durch die sie sich entwickelt haben, ein allgemeineres unpersönliches, überpersönliches Leben fort. […] Das Ich ist unrettbar. Teils diese Einsicht, teils die Furcht vor derselben führen zu den absonderlichsten pessimistischen und optimistischen, religiösen, asketischen und philosophischen Verkehrtheiten."
Wenn wir statt Elemente Szenen oder, besser, Erzähleinheiten einsetzen, können wir sagen: Körper und Persönlichkeiten sind Komplexe von Erzähleinheiten. Begreift man Persönlichkeiten als aristotelisch-gustav-freytagsche Komplexe von Erzähleinheiten, dann wird man erwarten, dass sie Kontinuität, Kohärenz, Entwicklungen, Krisen, Höhepunkte, Schmerzen, Herausforderungen, Glück, einen Charakter, ein wahres Selbst, einen Wesenskern und dergleichen aufweisen. Man wird erwarten, dass ihre Zeit abläuft, denn darauf basieren lineare Geschichten in zeitbasierten Medien erzählt, und dass Willis oder Christus kommen und die roten Ziffern des Countdowns der Bombe bei 2 zum Stoppen bringen. Mit einem Wort, man wird die Persönlichkeit bis zum Hals in einem großen Haufen Panik stecken sehen.
Dass die Geschichten, die wir schreiben, kohärent sein sollen, entspringt dem Wunsch, selber verlässliche, kohärente Persönlichkeiten zu sein, die einer Wahrheit, einer Moral und einem Ziel verpflichtet sind, so dass sich ihre Elemente unter einem erkennbaren Spannungsbogen ordnen. Die runde Geschichte steht für die Kohärenz und charakterliche Eindeutigkeit des Autors. Er beweist mit ihr, dass er nicht nicht-kohärent, also nicht wahnsinnig ist. Wir arbeiten und feilen so lange an unseren Geschichten, bis sie klingen ein Guss, damit niemand glauben möge, wir Autoren, Erzähler, Journalisten, Regisseure, Anekdotenerzähler, Politiker, Plappermäulchen und Logorrhoeiker seien nicht aus einem einzigen Guss. Denn ein nicht-kohärenter Mensch könne, fürchten wir, keine Verantwortung übernehmen. Sich an ihn halten zu wollen, wäre die Hand in einen Strudel zu stecken. Geschichten, die kein Ganzes ergeben, keiner Spannung und keiner Wahrheit gehorchen und keine banale Idee über die 120 Minuten ihres Daseins verfolgen, besitzen keine Moral und für die Allgemeinheit keinen Nutzen. Nicht ihr Inhalt ist die Botschaft einer Erzählung, sondern die Form. Jerofejews Reise ist nicht die Geschichte eines Tages im Suff, sondern eine Reise in Gebiete Jenseits von Story, Panik und Zeit. Genauso die Geschichten von Zygmunt Haupt, in denen keine Zeit, die ablaufen könnte, existiert.
Natürlich erzählen wir auch deshalb aristotelisch-mckeeistisch, weil wir, teils aus praktischen Gründen, teils aus Liebe zu uns selbst, an Existenz und Bestand der Persönlichkeit glauben möchten.
Schauen wir eine Korsakow-Erzählung an oder, wahlweise, einen Text von Andreas Neumeister, oder Youtube, oder das Internet als ganzes, dann sehen wir auf einen Blick, dass, wenn wir die eine oder andere Erzähleinheit wegnehmen, neue Erzählungen entstehen, und dass, wenn wir alle Erzähleinheiten aus ihnen entfernten, nichts übrig bliebe. Ein Korsakowfilm, ein Neumeistertext, Youtube oder der Internet besitzen kein wahres Selbst, und wir würden niemals annehmen, dass sie für eine Wahrheit stünden, die unabhängig von ihnen existierte.
Anders die klassische Erzählung. Sie suggeriert, dass, wenn wir die eine oder andere Szene aus ihr entfernten oder ersetzten, einen Dialog geringfügig änderten, kürzten, ein paar Schnitte verschöben, die Erzählung an sich, in ihrem Kern, doch dieselbe bliebe. Selbst wenn wir alle Szenen aus ihr entfernten, den gesamten Text löschten, sollten wir immer noch glauben, dass die Wahrheit, von der wir meinten, sie habe sich in dieser Erzählung ausgedrückt, immer noch da sei, nur mehr unentdeckt und unverkörpert. Da sie vorher so eindringlich da stand, können wir uns kaum vorstellen, dass es sie nur durch ihre Verkörperung gegeben haben soll. Sie muss eine unabhängige, von ihrer Gestalt verschiedene Existenz besitzen. Wir glauben an das wahre Selbst der Erzählung und damit zugleich an unseres eigenes, und das ist die Metaphysik der klassischen Narration. Der Unterschied zwischen einem Gottesdienst und den Stories ist – im Prinzip nicht vorhanden. Ebenso wenig der Unterschied zwischen den Stories und, sagen wir, Nordkorea.
Und die Postkarten Derridas, scheint mir, waren Korsakow auf Papier.
