
Man will die Anatomie mit den Fingern berühren und verbotene Stellen finden.
ANATOMIE
Es macht einen immer nervös. Es ist so ein Flattern in der Brust, und manchmal bekommt man feuchte Hände. Appetitlosigkeit und innere Unruhe sind weitere Symptome. Man möchte sie immerzu nur anehen. Oder mit ihr am Telefon sprechen, sogar mittels Funktelefon, auch wenn es teuer ist.
Aber Kristin, meine Beraterin in beziehungsstrategieschen Fragen, hat gesagt, dass ich jetzt auf keinen Fall anrufen darf. Ich muss sie schmoren lassen. So hat sie es gesagt. Und so stehe ich auf dem Balkon, das Telefon in der Hand, und suche am Himmel nach göttlichen Zeichen.
Wenn man sich im Spiegel ansieht ist man oft unzufrieden. Immer findet sich etwas, was einen ins größte Unglück zu stürzt. Etwas, was SIE dazu bringen könnte, sich mit anderen zu beschäftigen. Der Gedanke allein so mächtig wie eine dicke schwarze Wolke an einem Sommertag.
Der Körper erfordert volle Konzentration und Aufmerksamkeit. Alle paar Stunden muss man ihn füttern, und ihm morgends und abends die Zähne putzen. Er will gebadet werden, am liebsten in teuerem Bodyshop-Vanille-Schaumbad.
Darum habe ich mir, um mein Leben zu verbessern, ein Gestell gekauft, dass man über die Badewanne legt. Man kann Dinge darauf abstellen, die zum Baden unablässig sind, aber eben nicht wasserdicht. Volle Teetassen zum Beispiel, Bücher oder Funktelefone.
Seit dem winde ich mich vor Begeisterung auf dem Boden.
Zehn Jahre habe ich mich ohne eine derartige Vorrichtung in Wannenbädern aufgehalten. welche Dummheit! Welche Verschwendung von Badewannenglück! Tropfende Magazine, Wellige Romane, zerstörte Telefone.
Meine Eltern hatten auch so ein Ding. es war aus gelbem Plastik und ich habe es irgendwie nicht gemocht. Und auch nicht gemerkt, wie unverzichtbar es ist. Es war ja immer da. Dann habe ich andernorts gewohnt. Und da gab es keine Badewnnen. Als ich dann wieder wo war, wo es eine Wannne gab, hatte ich das Gestell nicht mehr im Kopf. Irgendetwas hat gefehlt, nur was wusste ich nicht.
Mittels Intelligenz und nach einigen verzweifelten Telefontrocknungsaktionen wurde mir der Mangel bewusst. Im besten Kaufhaus der Stadt, und weil die keins hatten, im billigen Baumarkt um die Ecke, machte ich mir das neue Glück zu eigen. Für zwanzig Euro.
Wenn Körper aneinander reiben entsteht Feuer und das allergrößte Glück. Vereinzelt allerdings auch Ärger, schlechtes Gewissen und Tränen. Körper vergehen im Begehren nacheinander, sie funktionieren komplex und reagieren unberechenbar.
Man sagt, daß der liebe Gott den Menschen aus Lehm geformt hat. Aber das ist gelogen. Der Mensch ist einfach passiert, und sie passiert noch immer.
Zu früheren Zeiten dachte ich, das Problem läge an der Schwerkraft. Doch beim Betrachten der Vögel, die am Balkon vorbei in Richtung Suden ziehen ist es mir schlagartig klar: Es ist die Anatomie, die einen am Boden hält. Hätte der Liebe Gott, oder das Schicksal, oder der Zufall, oder was auch immer die Verantwortung für das Entstehen der Anatomie trägt, sich ein wenig besser konzentriert, der Körper könnte es dem Geiste gleichtun. Aber statt dessen wirft die Körper dem Geist behände Knüppel zwischen die Flügel. Ein Handwerk, dass er über die Jahre hinweg immer mehr zu perfektionieren vermag.
Einmal hat mein Geist meinen Körper verlassen. Da war ich vielleicht vierzehn oder fünfzehn. Es war ein sonniger Sommernachmittag. Ich lag ziemlich betrunken auf dem Rasen. Um mich herum der Stadtpark, darum herum die kleine Stadt in der ich aufgewachsen bin, und darum herum die ganze Welt, von der ich damals noch nicht sehr viel mehr wusste, als daß es sie gab.
Der Walkman war bereits erfunden und ich hatte so ein Ding. Der Walkman sang mir die Toten Hosen vor, und dann ist es passiert. Mein Geist hat meinen Körper verlassen. Er schwebte nach oben, den Blick nach unten, und so sah ich mich im Gras liegen, ein paar von meinen Freunden saßen noch da, im Park, in der Stadt. Ich sah die Leute auf den Straßen ihre Besorgungen machen. Und wenn ich mich konzentrierte, konnte ich nicht nur hören was sie sagten, ich fühlte auch, was sie dachten. Gewichtige Gedanken, genau wie meine, und genauso unbedeutend. Auf einmal war ich der Stadt und ihren Menschen ganz nah. Ohne Argwohn konnte ich alles betrachten. Die geschlagenen Schlachten waren vergessen, die erungennen Siege ebenso, wie die viel zahlreicheren Niederlagen. Ein klarer Blick. Eine kleine Stadt mit Leute, die niemandem Böses wollen. Und dann brach alles in sich zusammen. Die Toten Hosen hatten augehört zu singen, ich stürzte in mich selbst zurück, und fand mich wieder, im Gras liegend, im Stadpark. Um den Park herum die Stadt, bevölkert mit hintelistigen Menschen, die einem immer wieder sagten, wie klein man war. Und die dafür sorgten, daß man klein blieb. Als ich meinen Freunden im Park von meinem Erlebnis berichtete, schaute sie mich an. Dann nahmen sie einen Schluck aus ihren Bierflaschen, und ich nahm einen Schluck aus meiner. Dann gingen wir heim.
In jungen Jahren konnte sich der Geist entschliessen, zu was er wollte, der Körper folgte gleichgültig. Aber der Körper, die faule Sau, liegt lieber vor dem Fernseher, (also eigentlich hinter dem Fernseher. Allgemein meint man, dass hinter dem Fensehr nur die zwei Kabel sind, die in die Wand hinein gehen, das eine zum Strom und das andere irgendwie über viele komplizierte Vermittlundsstellen in eine Fernsehschaltzentrale und von da aus in ein Fernsehstudio, und da in eine Fernsehkamera hinein. Irgendwie. Und vor, ja eben VOR und nicht HINTER dieser Kamera steht dann eine blonde Frau und liest die Nachrichten. Aber wenn da wo die Frau steht, VOR ist, dann ist das andere Ende der Leitung, also da, wo die Frau wieder raus kommt, und wo der Körper mit seinen Kartoffelchips wartet, HINTER... ) der Körper liegt also hinter dem Fernseher, frisst Kartoffelchips und zwingt so den Geist, sich mit der dummen Welt der Massenmedien zu beschäftigen. Den gut gemeinten Vorschlag: "Lass uns doch mal ins Theater gehen!" beantwortet dder Körper dreist mit einem Ziehen in der Schulter, schmerzverzerrtem Gesicht und den Worten: "Ich kann nicht, ich bin krank."
Wenn der Geist nicht nachgeben möchte, bis in die Nacht am Computer arbeitet und auf eine Party nach der anderen geht, fesselt ihn der Körper zur Strafe monatelang an Krankenhausbetten und läßt Ärzte in weissen Kitteln für sich sprechen: "Sie müssen sich schonen."
Ich liege im Bett und starre an die Decke. An die Decke. Nicht in den Fernseher. DER Kampf ist noch nicht entschieden. Mein Bettnachbar ist auch an der Bandscheibe operiert. Er ist bei der Polizei. Er bekämpft den Rechtsradikalismus in Deutschland. Vom Schreibtisch aus. Er stöhnt leise. Das Fenster darf ich nicht öffnen. Wegen dem Zug. Weil man dann eine Lungenentzündung bekommt. Mein Gott, sind das Helden, diese Rechtsradikalismus-Bekämpfer!
Geist vs Körper, der ewige Kampf, der stets damit endet, dass der Körper obsiegt. Wenn es die anderen Körper sie nicht gäbe, der Mensch würde wahrscheinlich ein langweiliges Leben führen, hinter dem Fenseher. Und sich allenfalls hin und wieder aufraffen, um eine neue Tüte Katoffelchips aus der Küche zu holen.
Aber da ist ja noch SIE.
Das ist der Moment an dem sich Körper und Geist verbünden. Die Körper wirft sich in Schale und zusammen gehen sie hinaus in die Welt. Der Geist auf der Suche nach Anregung und Abenteuer, der Körper auf der Suche nach einem Partner.
Ich war neu. Gerade erst aus Bayern zugezogen. Wegen dem Zivildienst. In einer Drogentherapie-Einrichtung. Der Christian auch. Er fährt einen riesengrossen amerikanischen Schlitten. Einen Cutless-Surpreme-Oldsmobile mit zwölf Zylindern und weissem Leder. Mit dem hat er mich durch die Großstadtnacht gefahren. Wir waren in einem echten amerikanischen Diner, im Schwarzen Cafe und im Tresor. Der Christian hat seinen Schlitten immer auf dem Gehweg gepartkt. "Mit dem Ding finde ich eh keinen Parkplatz. Keine Chance." Jetzt stehen wir vor dem Haus wo ich wohne. Als ich aussteige sagt der Christian: "Ach, ich wollte, ich hätte eine Freundin. Dann müsste ich mir den Terz nicht antun. Dann würde ich mit ihr am Samstag abend gemütlich zu Hause sitzen. Video kucken."
Und dann habe ich es nicht mehr ausgehalten. Beziehungsstratesche Beratung hin oder her. Ich habe ihr meine Liebe erklärt. Habe erzählt. Vom Haus auf dem Land, an einem See, und von den Kindern. Mindestens drei. Sie hat mich ganz erschrocken angeschaut. Dann ist sie gegangen.
Früher habe ich mich jeden Tag in eine andere verliebt. Heute, wo ich so viel gescheiter bin, verliebe ich mich nur noch selten. Der Geist findet mit jedem schönen Mädchen eine Unmenge von Gründen warum dieses Mädchen nichts ist. Und auch nichts werden wird. Er beruft sich auf seine Erfahrung.
Jetzt habe ich mich doch blamiert. Trotzig will ich es nicht wahr haben. Ich will glauben, dass ich mutig war. Eine Idee hatte, und dafür gekämpft habe. Ein trauriger Held. Aber immerhin ein Held.
Alles gelogen. Ich bin kein Held. "I am the Fly, crawling over your window and you think I'm confused." Ich bin eine Fliege. Gerade bin ich ans Fenster gekracht. Mit voller Kraft dagegen. Dem Licht entgegen.
Was geht der Fliege durch den Kopf, wenn sie ans Fenster knallt?
- Der Arsch.
...nee, lass mal.