
Die Welt ist groß. Zu groß und zu detailreich, um sie in meinen kleinen Kopf hinein zu bekommen. Daher wende ich einen Trick an. Der Trick geht so: Ich nehme nach und nach ganz kleine Stücke von der Welt und versuche sie so gut wie möglich zu verstehen. Diese kleinen Stücke Welt sammle ich in Vitrinen in meinem Kopf. Wenn ich ein neues Stück Welt bekomme, laufe ich durch meine Sammlung, bis ich ein ähnliches Stück gefunden habe. Ich ordne das neue Stück in meine Sammlung ein, erweitere mein Wissen und benutze das, was ich über die anderen Stücke der Welt gelernt habe, um das neue zu begreifen.
Ich glaube, das macht jeder so.
Aber so begreift man natürlich nicht die Welt. Allenfalls begreift man seine Sammlung. Daher ist es wichtig, immer wieder neue Beziehungen herzustellen. Neue Verbindungsfäden zu legen, zwischen den Weltstücken.
IF
Was wäre, wenn es nicht so saukalt gewesen wäre, als ich aus Kairo zurückgekommen bin? Wenn mein Wasserreservoir auf dem Balkon nicht zugefrohren gewesen wäre. Wenn ich mich entschieden hätte, das schwere Ding nicht ins Badezimmer zu tragen, fasziniert von dem massiven Eisblock und vom Wunsch beseelt, meine elektrische Balkonpflanzenbewässerungsanlage zu retten. Aber vielleicht hat das alles gar nichts damit zu tun, dass ich jetzt hier im Krankenhaus liege, respektive stehe und nicht mehr richtig pinkeln kann.
THEN
Bandscheibenvorfall.
Entscheidungen.
In nachhinein ist das Leben immer linear. Im vorhinein manchmal unvorhersehbar.
Das Leben ist eine Geschichte. Nicht ununterbrochen eine spannende, und nicht unbedingt eine mit Kartharsis, Plot und Brimborium. Aber doch eine, die man seinen Enkeln erzählen will. Und die Enkel werden sie hören wollen. So stelle ich mir das jedenfalls vor. Und der Bandscheibenvorfall ist eine Episode. Mit Happy End, wie ich hoffe.
1997 habe ich das erste mal versucht, Geschichten für meine Enkelkinder aufzuschreiben. (Ein wenig voreilig vielleicht, ich habe noch nicht mal Kinder..) Und weil ich keine Ahnung vom Schreiben hatte, keine Ahnung von Geschichten, aber einen Computer, habe ich den Computer benutzt um die Geschichten aufzuschreiben und zu ordnen. Das war gar keine Entscheidung, das Ding stand einfach vor meiner Nase.
Erinnerungen.
Man geht in Gedanken die Strasse vor seinem Elternhaus entlang, sieht den Baum, der da steht, da hat der Hund von meinem Bruder Christof immer hingepinkelt. Der Hund ist mitlerweile tot. Ich denke an den Nachbarn, der sich immer aufgeregt hat, und denke an meinen Nachbarn in Berlin. Der hat auch einen Hund und der Nachbar regt sich auch immer auf. Man kommt vom 100sten ins 1000ste. Aber wenn die Geschichten, die Episoden, oder wie Heinz Emigholz sagt, die smallest narrative units (SNUs), stimmig sind, Perlen, oder leckere Kuckenstücke, dann macht das auch einem Zuschauer Spass, sich durch solch eine "Geschichte" zu "bewegen".
Das Ergebnis, die CDrom [kleine welt] hat gut funktioniert. Ich zeige sie noch immer gerne, sie ist so wahnsinnig simpel. Und es geht um Bayern und um Bier und um die erste Liebe. Das ist eine schöne Mischung, da braucht es gar keinen Plot.
Und dann hat mich zwei Jahre später Willem Velthoven von Mediamatic Magazine aus Amsterdam gefragt, ob ich die [kleine welt] nicht veröffentlichen wollen würde. Und natürlich wollte ich, und schon hatte ich ein Problem. Denn: eine Episode hatte ich vergessen. Eine wichtige Geschichte, mein Freund, Herr Pollach aus Amberg hat mich darauf hingewiesen. Daraufhin musste ich die ganze [kleine welt] auseinanderreissen und neu verlinken. Wegen einer Geschichte! In eine solche Situation wollte ich nicht noch mal kommen müssen. Das war der Anfang von der Idee, dass doch bitte jede Episode, jede SNU, selber wissen soll, mit was sie zusammengehören könnte. Database Driven Narrative. Das heisst, jeder Teilgeschichte (SNU) werden Metainformationen mitgegeben, keywords, und so findet jede SNU passende SNUs und wenn man dann noch eine SNU einfügen will, dann bekommt die SNU ihre keywords und schwupps ist sie drin in der "Erzählung", so wie eine Geschichte, die man eigentlich schon ganz vergessen hatte und plötzlich ist sie wieder da, als Teil des grossen Ganzen.
Denken.
Denken ist die Gedanken im Kopf in einen sinnvollen Zusammenhang zu stellen. Geschichten sind Bilder von Gedanken. Im abstrakten Denken bin ich nicht gut. Ich muss in Bildern und Geschichten denken. Sonst verliere ich den Überblick.
Nonlinear Narrative.
Die Bibel ist ein cooles Buch. Man hat uns daraus schon im Kindergarten Geschichten vorgelesen, und wir haben Bilder dazu in Hefte gemalt. So hat man uns Kindern ein sehr komplexes Weltbild vorgestellt. Und hätten unser Religionslehrer später nicht soviel hineininterpretiert, vielleicht noch ein sehr offenes dazu.
Demokratie.
Wenn man einen Film macht, muß man die Verantwortung auf sich nehmen, eine Szene für alle Ewigkeit an die andere hinzubetonieren. Eine große Verantwortung und eigentlich auch eine Anmassung. Weil die Welt so einfach nicht ist. Natürlich kann man auch in einem nonlinear interaktiven System nicht alle Bezüge darstellen. Dazu ist die Welt zu kompliziert. Aber man kann eine grössere Annäherung erreichen. Das ist ein Aspekt.
Diktatur.
Doch die Freiheit des Betrachters spielt sich nur innerhalb des Rahmens ab, den der Autor ihm läßt. Wenn der Autor sich geschickt anstellt, wird sich der Betrachter der Grenzen nicht bewusst. Er glaubt an seine vermeintliche Freiheit und steht den vielleicht manipulativen Anwandlungen des Autors unkritischer gegenüber. Dass eine große Auswahl nicht zwangsläufig eine große Freiheit bedeutet, lernen wir bei MacDonalds. Große Auswahl, aber alles das selbe.
Aufmerksamkeit.
In einer interaktiven Narration kann der Autor den Betrachter direkt ansprechen. "Wie gefällt dir die Frisur des Protagonisten?" Auch in einem Film kann man eine solche Frage stellen. Aber man wird nicht wissen, ob sich der Betrachter auf die Frage einläßt. Macht er sich Gedanken zu meiner Frage, oder schläft er in seinem Kinosessel? Wenn sich in einer Interaktiven Narration der Betrachter nicht entscheiden will, geht es nicht weiter. Wenn der Betrachter will, dass es weiter geht, muss er sich Gedanken machen. Die Gedanken, die ihm der Autor abverlangt. Der Autor hat den Kopf des Betrachters genau an der Stelle, an der er ihn haben will. Zentimetergenau. Das bedeutet, der Autor hat entweder einen sehr aufmerksamen Zuschauer, oder er hat gar keinen.
[korsakow syndrom].
Das [korsakow syndrom] entstand im Jahr 2000. Ein interaktiver, nonlinearer Dokumentar"film" zum Thema Alkohol. Zahlreiche Interviews, Geschichten, dokumentarisches Material und ein alkoholisch musikalischer Selbstversuch des Berliner Künstlers Jim Avignon. Eine Datenbank kümmert sich darum, dass die einzellnen Sequenzen regelbasiert und sinnvoll zueinander in Beziehung gesetzt werden. Um das [korsakow syndrom] zu machen, habe ich mir ein Authoring-Tool geschrieben. Ein Programm, das auf meine Bedürfnisse des interaktiven Erzählens einging.
Autor.
An dieser Stelle kommt nun gewöhnlich eine Frage aus dem Publikum, die ich sehr gerne zu beantworten versuchen werde : "Was ist denn der Part des Autors eines derartigen Projekts, wenn doch der Betrachter seinen Weg selbst bestimmt?"
Der Autor bestimmt den Inhalt, der Autor legt die möglichen Bezüge fest. Der Betrachter befindet sich immer innerhalb der Grenzen, die der Autor zuläßt. Es handelt sich also bei einem derartigen Projekt immer um ein Autorenprojekt. Der Autor ist der Autor, der Betrachter ist der Betrachter, allerdings kann es sein, dass der sich dabei auch ein wenig als Autor fühlt. Vielleicht entwickelt er beim Betrachten einer derartigen Arbeit das Gefühl, ein ernst genommener Teil der Arbeit zu sein. Auch das ist ein Kunststück, dass der Autor zu bewerkstelligen hat.
Garten.
Der Autor ist ein Architekt, der einen Garten anlegt. Wenn der Garten ein Film ist, wird der Betrachter an einer Schnur (der Zeit) auf einem vorbestimmten Weg durch den Park gezogen. Der Kopf des Betrachters ist in einer Vorrichtung fixiert, er kann nur das sehen, was der Autor für ihn vorgesehen hat. Wenn er sich eine Blume einen Moment länger ansehen möchte, eine Hinweistafel genauer studieren: der Betrachter hängt am Faden, er kann sich seine Zeit nicht einteilen. Er wird weitergezogen oder muss an einer Stelle verweilen, die ihm vielleicht nicht gefällt.
Je interaktiver der Garten ist, desto mehr Freiheiten hat der Betrachter. Der nächste kleine Schritt in Richtung Interaktivität ist die Möglichkeit, dass der Betrachter die Schnur anhält, die ihn durch den Garten zieht. Der Betrachter trägt sofort ein größeres Mass an Verantwortung. Weil er sich seine Zeit nun selbst einteilen muss. Und entscheidet, ob er sich über etwas Gedanken machen will oder nicht. Stop and Play. Stop to Think.
Das größte Maß an Freiheit hätte der Betrachter unseres Gartens dann, wenn er sich unabhängig von physikalischen Gesetzen überall im Garten aufhalten könnte und zu jedem Zeitpunkt alle Informationen zur Verfügung hätte. Doch das ist abgesehen von der Sensation der ersten Erfahrung eine eher langweilige Vorstellung. Nur Götter kommen mit solch einer Situation zurecht. Der Mensch neigt dazu, nicht mehr zu wissen, was er will. Er fühlt sich von der Auswahl der Möglichkeiten überfordert. Die Welt in der man machen kann, was man will, stellt sich eher langweilig dar. Vollkommene Freiheit liegt auf der Achse cool bis langweilig ziemlich nah an langweilig.
Null Interaktion.
Null Interaktion muß gar nicht schlecht sein. Oft ist sie sogar erwünscht. Unser gefesselter Betrachter des linearen Gartens kann jede Menge Spass haben. Es liegt am Garten. Der muss nur entsprechend gestaltet sein. Wenn unser Garten eine Achterbahn ist oder eine Wasserrutsche. In Amerika geben Menschen viel Geld aus, um sich auf Vorrichtungen fixiert durch Wasserparks ziehen zu lassen.
Cooler Computer.
Aufgrund der technischen Gegebenheiten der Vorcomputerzeit hat man sich vor allem damit beschäftig ,lineare Gärten anzulegen. Man hat sehr viel Erfahrung gesammelt, auf Seite der Architekten ebenso wie auf Seite der Besucher.
Die technische Entwicklung der letzten Jahre ist enorm. Mit dem kleinen Ding, das hier vor mir auf meinem Krankenhaustischchen steht, sind Sachen möglich, die noch vor kurzem mit Maschinen im Wert eines Einfamilienhauses nicht funktioniert haben. Wir werden im Umgang und im Denken mit diesen Maschinen immer vertrauter. Was vor wenigen Jahren noch eines studierten Programmiers bedurft hätte, kann man sich mitlerweile mit Fleiß und Spucke selber basteln. Filmemacher haben Computer vor ihren Nasen. Schriftsteller, Drehbuchschreiber, alle benutzen das Internet, googeln und linken sich die Welt zusammen. Mit diesem "Medium" "Geschichten" zu "erzählen", "Filme" zu machen, das alles wird passieren. Es passiert schon. Aber bis zum Blockbuster wird es dauern, und wahrscheinlich kommt der Durchbruch nicht mit einem großen Knall. Seit der Mensch Schreiben kann, schreibt er lineare Geschichte. Schon seit einer ganzen Weile. Brauchbare Computer gibt es erst seit wenigen Jahren.
[korsakow system].
Nachdem ich meine Diplomarbeit, das [korsakow syndrom] an der Universität der Künste in Berlin (UdK) vorgestellt hatte, fragte mich Willem Velthoven, der mitlerweile als Professor an die UdK gekommen war, ob ich nicht Lust hätte, mitzumachen in einer Klasse "Interaktive Narration". (Natürlich hatte ich Lust).
Velthoven beschäftigt sich seit vielen Jahren mit intuitiv und argumentativ arbeitenden narrativen Datenbankprinzipien. Die CDrom "Doors of Perception" von 1993 entwickelte dabei massgebliche Grundprinzipien. Wesentlich umfangreicher als die [kleine welt] war die "Doors of Perception" CDrom ebenfalls hart verlinkt, es stand keine Datenbank im Hintergrund. Es ist eine grosse Freude, Willem Velthoven erzählen zu hören, welchen immensen logistischen Aufwand es verursacht hat, die sinnvollen Links zu finden, ohne den Überblick zu verlieren.
Seit mehr als zwei Jahren entwickeln wir an der Universität der Künste in Berlin aus dem Tool, das ich ursprünglich geschrieben hatte, um das [korsakow syndrom] zu machen, das [korsakow system]. Das [korsakow system] ist ein Programm, das es Autoren auch ohne Programmierkenntnisse ermöglicht, interaktiv narrative Projekte zu erstellen. Unsere Studenten in der Klasse Interaktive Narration arbeiten mit dem Programm. Bei zwei äußerst intensiven Workshops mit internationalen Filmemachern konnten wir bereits wundervolle Erfahrungen sammeln. Insgesamt sind bisher etwa 100 unterschiedliche Arbeiten mit dem [korsakow system] entstanden.
[korsakow foundation].
Im Februar 2003 wurde in Amsterdam die [korsakow foundation] gegründet. Die [korsakow foundation] wird in Zusammenarbeit mit Film- und Medienfestivals in zahlreichen europäischen Städten Workshops organisieren und die Arbeit am [korsakow system] unterstützen.
Expedition.
Morgen werde ich aus dem Krankenhaus entlassen. Mein Aufenthalt hier dauerte zwei Wochen. Obwohl ich fast nur im Bett gelegen habe, kam mir die Zeit vor wie eine Reise. Eine Expedition in die Welt des Krank seins. Und wie auf allen meinen Reisen habe ich neue Exponate für mein Museum im Kopf gesammelt. Neue Bilder, neue Geschichten. Ich hoffe, es sind Stücke dabei, die sich nicht ohne weiteres in eine Vitrine legen lassen. Stücke, die es notwendig machen, neue Verbindungen herzustellen, neue Fäden zu legen. Denn diese Stücke sind die wertvollsten. Sie lassen das Bild von der Welt komplexer werden. Und damit der Welt näher.
Englische Übersetzung veröffentlicht: im Dox-Magazine, Issue #46, April 2003