Anke Angermeyer macht Bürokratie. Ihre Rekonstruktionen sind der Aufbruch in eine neue Textgattung, in der Personen, Zustände und Objekte durch die bürokratische Ansammlung von Wörtern und Zahlen erzählt werden. Mit ihren Rekonstruktionen schafft Anke Angermeyer eine Form des Ausdrucks zwischen Kunst und Literatur. Dabei erstehen Erzählungen von formaler und politischer Brisanz.
Zum einen stellen die Rekonstruktionen tradierte Begriffe von Literatur und Erzählung infrage. Sie lassen sich wie autobiographische Erzählungen lesen. Gleichzeitig stammt kein einziges Zeichen darin von der Autorin selbst. Man könnte also argumentieren, es handle sich hier nicht um Erzählung und schon gar nicht um Literatur. Allerdings stellt sich die Frage, was an einem originär-literarischer Text eigentlich tatsächlich vom Autor selbst geschaffen ist: Die Sprache und ihre Begriffe jedenfalls nicht. Die Zeichen des Textes auch nicht. Die Kunst, diese Zeichen zu arrangieren, nicht, und selbst die Ideen, die in einem literarischen Text verhandelt werden, hat der Autor selten selbst und niemals autonom entwickelt. Daher sind Anke Angermeyers Texte ein kritischer Kommentar zum modernen Text- und Literaturverständnis.
Zum anderen enthalten sie einen konkreten Zeitbezug. In der hochtechnisierten Informationsgesellschaft sind Fremd-Daten zu einem heiß begehrten Gut geworden. Überall findet sich das Individuum in der Spannung zwischen den Vorteilen globaler Vernetzung und den Gefahren des Datenmissbrauchs durch Staat und Unternehmen. Durch Handy und Evernet werden Freunde zu jeder Zeit wissen können, wo wir uns befinden aber eben nicht nur Freunde. Google schenkt uns unendliche Speicher im Netz aber Google liest mit. Elektronische Zahlungsmittel vereinfachen unser Leben und zeichnen die Spur unserer Bewegungen in die Datenlandschaft. Anke Angermeyer macht sich freiwillig so gläsern, wie wir alle längst sind, ohne es zu ahnen. Die Selbstentblößung war immer ein Privileg der Künstler. Sie konnten damit Realität nachzeichnen anhand des Objekts, über das sie am meisten Informationen besaßen: sich selbst. Könnte es jedoch sein, dass die Künstler schon weit abgeschlagen sind und andere bereits viel mehr Informationen über sie besitzen, als sie jemals preisgeben können?
Naturwissenschaftliche Forschungen zu den Themen Leben, Intelligenz und Materie erzielen derzeit revolutionäre Ergebnisse, die unsere Auffassung von der Natur des menschlichen Körpers und Geistes herausfordern. Der Erfinder und Autor Ray Kurzweil leitet aus möglichen technologischen Anwendungen dieser Erkenntnisse die Vision einer nahen Zukunft ab, in der Künstliche Intelligenz die menschliche auf allen Gebieten übertrifft, in der der Mensch mit intelligenter Technologie verschmilzt, Krankheiten und Altern durch den Einsatz von Gentechnik und Nanomedizin bekämpft werden und schließlich niemand mehr eines natürlichen Todes sterben muss.
Was an diesen Visionen ist Wissenschaft, was Heilsversprechen religiöser Art, was reine Science Fiction? Tobias Hülswitt und Roman Brinzanik haben Interviews mit herausragenden Wissenschaftlern geführt, darunter der Chemie-Nobelpreisträger Jean-Marie Lehn, der Stammzellforscher Hans Schöler und der Hirnforscher Wolf Singer, um herauszufinden, was der heutige Stand der Naturwissenschaften ist und wie seriöse Zukunftsszenarien aussehen. Daneben werden in Gesprächen mit dem Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft Peter Gruss, dem Demographen James W. Vaupel und dem Technik-Ethiker Bert Gordijn die sozialen Konsequenzen bevorstehender Technologien und einer möglichen radikalen Lebensverlängerung ausgelotet. Mit Pater Friedhelm Mennekes SJ, dem Schriftsteller Hans Ulrich Treichel, dem Psychologen Aaron Ben-Ze’ev u. a. sprechen die Autoren über die Plastizität menschlicher Identität und das Verhältnis der Künste zu Technik, Melancholie und Vergänglichkeit.
Noemi Schneider, Tobias Hülswitt, Florian Thalhofer |Ein Radio-Interview | 2009
Einen Tag nach der 7. Hilfe-Freiheit-Show in München hat Noemi Schneider ein 1-stündiges Radio-Interview mit der Direktion des Korsakow-Instituts geführt. Ein Gespräch über Korsakow, Freiheit, Erzählung und Gott… Herr Hülswitt geht nach der Show immer frühzeitig zu Bett. Florian Thalhofers Kunstlehrer am Gymnasium hat ihm beigebracht, dass man sich als ordentlicher Künstler anständig betrinken muß, wenn man eine Vernissage hat. Auch das kann man auch hören…
Heinz Emigholz | Zeichnung (99) aus DIE BASIS DES MAKE-UP | 2009 Ein Diamant in Textform. Im März 2009 nimmt Heinz Emigholz seine 1978 begonnene und in den frühen 2000ern weitergeschriebene Theorie des nonlinearen Erzählens (s. den Essay "Interaktive Narration" auf dieser Seite) in seinen Notizen zu den Zeichnungen der Reihe DIE BASIS DES MAKE-UP wieder auf: "Gewiß unter anderen Vorzeichen: Meine damaligen Argumente gegen lineare Erzählformen müssen einerseits eingeschränkt und andererseits universalisiert werden. [...] Wir müssen uns aus dem, was als Geschichte gilt, herauskatapultieren, um überhaupt noch das erzählen zu können, was über den Horizont des Fernsehens und seiner Formate hinausgeht und das gilt für Philosophie, Leben und Film gleichermaßen. Wir existieren unter dem Zwang der Aufforderung, uns zu einer vorgesetzten Geschichte fortwährend verhalten zu müssen auf dass sich diese Narration auf ewig perpetuieren möge. Das Geplapper der Nachrichten darf nicht aufhören. Dies ist es, was wir als endlose Gegenwart erleben die Zirkulation des Geldes, bei der wir bestimmte Rollen spielen sollen..."
Korsakow-Institut | FAQ des nonlinearen Erzählens | 2008
FAQ des Korsakowsystems und des Nonlinearen Erzählens: Wer oder was ist Korsakow? Was ist eine SNU? Hat ein Korsakowfilm ein Ende? Die gesammelte Theorie des Korakowsystems, zum Eintauchen, Weiterdenken und Selbstanwenden.
Interview mit Florian Thalhofer und Tobias Hülswitt | 2008
Florian Thalhofer und Tobias Hülswitt im Interview mit den Münchner Kammerspielen über die Gesprächsreihe Hilfe, Freiheit!, die einmal ein Film sein wird, über nonlineares Erzählen, Kommunikation, Kapitalismus, die Weisheit der Leute und den unendlich scheinenden See der Möglichkeiten. Die Sache ist nämlich die: nie waren die Eliten angepasster als heute. Das Denken ist umgezogen zum Volk.
Als Anke Angermeyer den nächsten Tag planen wollte, stieß sie auf ein Problem: Der Zettel war zu klein. Denn es war ja ist ja! so vieles gleichzeitig drin, und das zu jedem Moment! Ein größeres Papier musste her ... fünf Meter wurde es lang: TAG. Von Anke Angermeyer. Enjoy!
Enzio Wetzel (Hg.) | Die Nonlinearen sind längst Eiswürfel holen (DE) | Goethe Institut, München 2008 Ein Streitgespräch über Linearität und Nonlinearität in Geschichtsschreibung, Narration und Gesellschaft. Marcus Hawel, Florian Thalhofer, Tobias Hülswitt u.a. Dem Büchlein ist der Korsakow-Fim [Vergessene Fahnen] von Florian Thalhofer und Juliane Herich beigelegt. Zu beziehen über das Goethe Institut München.
Susan Blackmore | Meme Machine(Video, ENG) | 2008
Wir wissen noch nicht genau, was Susan Blackmores erweiterte Mem-Theorie mit Nonlinearer Erzählkultur zu tun hat. Eine erste Intuition aber stellt eine Verbindung zu Kurzweils Teleologie der Intelligenz (so teleologisch wie Aristoteles Erzähltheorie) her: Die Intelligenz sei die eigentlich treibende Kraft im Universum, ihr Ziel, sich im gesamten Universum auszubreiten und es zu erfüllen, und wir nur ihre Träger, die von besseren Trägern künstlicher Natur abgelöst werden können. Die Gene umzuschreiben heißt in keiner Weise, mit der Evolution zu brechen. Im Gegenteil, es heißt, sie zu beschleunigen. Sich zur Verbreitung von Memen zur Verfügung zu stellen, ebenfalls. Ein weiteres Indiz dafür, dass der Mensch nur eine Möglichkeit hat, keiner Sache Diener zu sein: Hinsetzen, nichts tun, nichts denken. Zugegeben, auch nonlineares Erzählen und Erzähltbekommen ist keineswegs Nichtstun. Aber es ist schon mal ein entspannteres, nicht so panisches Tun. Boykott evolution. Don't do anything. Andererseits korrespondiert Blackmores Mem-Theorie mit Machs Elemente-Theorie der 'Antimetaphysischen Vorbemerkungen': 'Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt.' Und die Vorbemerkungen haben wir bislang als anti-aristotelisch, also anti-teleologisch gelesen. Sollte sie sich früher Version Dawkins Mem von den Memen entpuppen, beginnt der Text zu flirren. Entspannend, weil den Subjektdruck mildernd, wenn es denkt und nicht ich. Anstrengend bis bedrohlich, wenn dieses es (das nicht Freuds Es ist) nun auch wieder ein Ziel besitzt…
Tobias Hülswitt | Das Gartenfest | 2007
Geschrieben im Sommer 2007 zum Vortrag auf dem Gartenfest des Berliners Autors Michael Lentz, nach der Lektüre der 'Antimetaphysischen Vorbemerkungen' von Mach. Auf einer Hollywoodschaukel gesessen mit Herrn Werner Fritsch und Herrn Wolfgang Herrndorf. Nervös gewesen, deshalb wärend des gesamten Vortrags geschaukelt. Herrndorf und Fritsch automatisch mitgeschaukelt. Aber was heißt da 'Fritsch' und 'Herrndorf' und 'ich'. Es gibt ja kein 'ich' und kein 'die beiden'. Jeder für sich ein Elementeverbund, verbunden mit anderen Elementeverbünden. 'Wir' waren 'Hollywoodschaukel schaukelnd und lesend, hörend und Garten etc.'
Florian Thalhofer | Die Welt ist eine Woke (DE) / The World Is A Cloud (ENG) | 2007
Die Wolke ist ein Welterklärungsmodell. Die Wolke ist ganz ernst gemeint, im Sinne eines nicht abschließenden Vokabulars, im Sinne eines praktischen Konzepts, mit dem sich arbeiten lässt. Pragmatik statt Wahrheit. Es wird also niemand gekillt, der die Wolke nicht glaubt. Im übrigen werden die meisten Menschen behaupten, sie hätten kein Welterklärungsmodell. Warum nicht? Weil die Welt viel komplexer sei als unsere Konzepte es jemals sein könnten. Womit wir mitten in einem Welterklärungsmodell wären. Einem World Explanation Model, kurz: WEM. (GEN MEM WEM)
Florian Thalhofer | Anatomie | 2005
Geschrieben für die Rubrik Anatomie in Jim Avignons Buch 'Welt und Wissen'.
Tobias Hülswitt | Sachte wird das Schaf gemolken (DE) | 2003
Im Sommer 02 Thalhofer kennengelernt und [kleine welt] gesehen. Hin und weg gewesen: Alles was ich mit 'Saga' (KiWi 2000) im Buch versucht hatte, funktionierte hier in Bild und Ton und computerbasiert, so leicht und wunderbar, vollkommen neu und doch schon mit der Anmutung eines Klassikers. In der Beschäftigung mit der [kleinen welt] gingen mir schlagartig die psychologischen, politischen, gesellschaftlichen Implikationen der Art und Weise auf, in der wir erzählen. Das ganze in dieser Rezension der [kleinen welt] für die Literaturzeitschrift EDIT notiert.
Heinz Emigholz | Interaktive Narration (DE) | 2002
Vorlesung des von uns hochgeschätzten Heinz Emigholz am Institut für Zeitbasierte Medien der UdK in Berlin, gehalten am 6. Februar 2002 (s. Das Schwarze Schamquadrat, Martin Schmitz Verlag, Berlin 2002). Emigholz führt hier das Vokabular ein, das wir bis heute für die Theorie nonlinearer (und interaktiver) Narration verwenden. (Das Interaktive an der sogenannten Interaktiven Narration halten wir für überbewertert, eine nicht-interaktive Narration für schwer vorstellbar. Auch das Umblättern einer Buchseite oder das Platznehmen in einem Kinosessel sind Interaktionen, ohne die es nicht los- und nicht weitergeht. Freilich öffnet die durch die Notwendigkeit einer bewusst assoziativen Entscheidung angereicherte Interaktion z.B. beim Anschauen eines Korsakowfilms andere Möglichkeiten der Partizipation, als wir es vom Buch und vom Film her gewohnt waren. (Auch dort gibt es solche Möglichkeiten, aber eigenartigerweise lesen wir auch Neumeisters 'Angels Davis löscht ihre Website' oder David Markssons 'This is not a novel' von vorne nach hinten, obwohl es durchaus anders ginge.) ) Emigholz' Essay aus Anlass des Lehrauftrags 'Erzählen 2.000' an der Akademie der Bildenden Künste in München noch einmal gelesen und noch einmal platt gewesen, wie klug der Text war und ist. Ein Grundlagentext nonlinearer Narration. Kaum ein Problem dieser Erzählform, das darin nicht erwähnt werden würde.
Florian Thalhofer | If Then (DE) / If Then (ENG) | 2002
Notizen von Florian Thalhofer zur Erfindung des Korsakow-Systems. Auf den Punkt in klaren, linear intakten Sätzen! Geschrieben im Jahr 2003. Erst Jahre später bemerkten wir, dass der Absatz über die millimetergenau platzierten Köpfe der Zuschauer wie ein ideologischer Fremdkörper in diesem Text steht. Contradictions. Yes, contradictions! Der Absatz entstand vermutlich unter gedanklichem Einfluss der Amsterdamer Schule der Theorie des korsakow systems und der interaktiven Narration, die ihren Hauptaugenmerk über Jahre auf die Interaktion und die mit ihr verbundenen Möglichkeiten der Manipulation des Betrachters statt aufs Nonlineare legte. Nicht, dass das korsakow system und nonlineare Narration im allgemeinen nicht die Möglichkeit zur Propaganda in sich trügen. Die Frage ist aber, ob man den Kopf des Betrachters überhaupt da haben will, wo man ihn gerne hätte, oder nicht lieber dort, wo er ihn selbst haben will. Letzteres scheint uns angenehmer. Schmackhaft machen statt manipulieren.
Im übrigen sind Interaktive Narration und Nonlineare Narration nicht dasselbe, auch wenn die Begriffe im Bereich des computerbasierten Erzählens häufig als Einheit fallen. Der Begriff der Interaktion ist im Zusammenhang mit Narration, sofern er eine Besonderheit des computerbasierten Erzählens beschreiben soll, höchst problematisch. Denn so besonders ist sie, wie gesagt, nicht, denn keineswegs gibt sie nur exklusiv hier. Aber das ist eine andere Geschichte und wird ein andermal erzählt.